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08.02.2012

» Der Komet

von Heinrich Steinfest

1945 schrieb der dänische Journalist Jacob Kronika über die von "erotischer Wildheit erfüllte" Untergangsstimmung in Berlin, über die Hemmungslosigkeit, über die Bereitschaft, die Familie zu vernachlässigen und Mahlzeiten zu opfern, um flüchtigen Begierden zu frönen. Er brachte dies auf den Punkt: "Im Untergang ist eine hektische Genusssucht ausgebrochen!"
In der Tat, im Augenblick des Verfalls, gleich zu welcher Zeit, dann, wenn das wahrlich Unumkehrbare der Untergang zu sein scheint, soll noch mal so richtig gelebt werden. Heutzutage drückt sich die "erotische Wildheit" im rauschhaften Konsum aus. Trude Herrs flehentliches Postulat "Ich will keine Schokolade, ich will lieber einer Mann", wird ersetzt durch das massive Begehren nach folgsamen, schoßhundartigen elektronischen Gerätschaften. Dort steckt der Sex!
Mein Eindruck im Vorfeld des Referendums zu Stuttgart 21 war, dass nicht wenige Menschen sich für das Festhalten des Projekts aussprechen wollten – und damit auch folgerichtig gegen die Bäume im Park –, weil sie auf eine irrationale Weise fürchteten, mit einem Ausstieg wäre auch ein Verzicht auf den "großen Spaß" verbunden. Als müsste man dann alles zurückgeben: das neue Handy, die neue Bluse, das iPad, die Urlaubsreise, den Fußball, ja, die ganze große Party, die wir im Angesicht nahender Katastrophen feiern.
Die Bäume? Ach so. Na ja.

Im Zug sitzend, aus dem Fenster schauend, von Wien heim nach Stuttgart kehrend, vorbei an waldreichen Gegenden, drängt sich mir der Gedanke auf: „Eigentlich gibt es doch schon genug Bäume auf der Welt, oder?“
Es gibt viel mehr Bäume als Gemälde (erst recht Gemälde von Bäumen), mehr Bäume als Bürgermeister aller Art, ja sogar mehr Bäume als Automobile (deren Dominanz von den Baumliebhabern so gerne breitgetreten wird). Stimmt natürlich, die Präsenz der Bäume ist eine gott- und naturgewollte und ganz sicher nicht das, was Arthur Koestler dem Menschen zugedachte, nämlich ein „Irrläufer der Evolution“ zu sein. Ohne Baum wäre die Welt nun mal eine gar trostlos öde Angelegenheit, die Luftverhältnisse eher bedauerlich. Siehe Mond. Ohne den Menschen hingegen nicht.
Aber der Mensch hat auch seine guten Seiten. Zum Beispiel die Fähigkeit, Gemälde zu schaffen. Vor allem aber die Gabe des Mitgefühls. Mitgefühl für Kreaturen, wenigstens wenn sie ansatzweise das Kindchenschema erfüllen. Nur ... sind Bäume Kreaturen? Verdienen sie Mitgefühl? Mehr Mitgefühl als Kräne oder Zahnbürsten (die uns ja ebenfalls Vorteile verschaffen, keine gute Luft zwar, aber gute Gebäude, wenigstens manchmal, und einen guten Atem, meistens)?
Freilich, das Mitgefühl steht oft nahe der Sentimentalität oder der romantischen Phrase oder gar der Propaganda: etwa der Besuch der schwer verletzten Soldaten, um deren Überleben wir beten, nachdem wir sie mit tausend Lügen in den Krieg geschickt haben. – Wir streichen so gerne über Kinderköpfe, während wir gleichzeitig die Kindheit abschaffen. Im Herzen sind wir alle Vegetarier, nur im Magen nicht.
Was bei alldem meistens auf der Strecke bleibt, ist die Würde. Wäre ich ein Baum, würde ich sagen: Wenn ihr mich unbedingt töten wollt, tut es, aber gebt nicht vor, dass dies unausweichlich ist und einer besseren Zukunft geschuldet, und gebt nicht vor, mich operieren zu wollen. Die geplante oder auch nur behauptete Baumversetzerei der im Bauweg stehenden Schlossgartenbäume ist Ausdruck eines Zynismus. Der gleiche Zynismus, der sich daraus ergibt, ein Land zu bombardieren, in dem man nachher Krankenhäuser baut. Das ist unser Problem: Wir wollen nicht vollends böse sein.
Dieses Dilemma gilt übrigens in gleichem Maße für den Bonatz-Bau. Die Vorderfront stehen zu lassen – in der Tat allein den Kopf, ohne Hirn allerdings, ohne Bewusstsein, lobotomiert – konterkariert nicht nur die Würde des zu zerstörenden Gebäudes, sondern letztendlich auch die Würde der Zerstörer.
Wenn das denn so ein hässlicher Nazibau ist (und nicht ein bedeutsames Meisterwerk der frühen Moderne, als das die Wissenschaft ihn ansieht, denn Kunst- und Architekturgeschichte sind – jawohl! – auch Wissenschaften), dann bitte weg mit dem ganzen Kasten. Denn es ist respektlos, einem Korpus die Gliedmaßen abzutrennen, den Rumpf auszuweiden, ihn seiner Bestimmung und damit seiner Ehre zu berauben und sodann seinen Leichnam nicht mal zu begraben. – Was soll dieser geplante Fassadismus eigentlich darstellen? Eine Warnung für andere Bahnhöfe? Eine Warnung für jegliche Architektur von Bedeutung, sich in Stuttgart je wieder niederzulassen? Eine Warnung, wie schädlich es sein kann, trotz massiver Vernachlässigung bestens zu funktionieren? Eine Warnung gleich diesen Köpfen, die man auf Pfähle spießt?
Aber zurück zu den Bäumen. Ob man sie nun für Kreaturen hält oder nicht, ihnen (zumindest im Falle der hohen, alten, dicken Exemplare) das Fehlen eines Kindchenschemas verzeiht oder nicht, ob man sie allgemein für überschätzt hält oder nicht, man muss wohl sagen, dass sie ausgerechnet an dieser einen Parkstelle vollkommen richtig stehen. Richtiger, weil nötiger, können sie gar nicht stehen. Wir können sie woanders nicht brauchen. Schon gar nicht in dem halbtoten Zustand, in dem sie dann sein werden, wenn man sie ausgerissen hat. Nein, entweder lässt man sie am Leben oder macht ihnen – wie in den finsteren Zeiten der S-21-Projektplanung vorgesehen – den Garaus.

Kinder fragen gerne: Wenn jemand tot ist, träumt er dann?
Und: Träumen eigentlich auch Bäume?

Ihre funktionalistische Art, ihre ganz und gar vernunftorientierte Zweckmäßigkeit (und nie haben wir darüber mehr erfahren als in der Bildungsbürgermusterstadt Stuttgart) lässt eher vermuten, es handle sich um rigoros mathematische Köpfe. Im Gegensatz etwa zu Topfpflanzen, die, nahe dem Menschen lebend, ihm ähnlich werden: schwärmerisch, barock, schwermütig, übermütig, geschwätzig, suizidal. Topfpflanzen haben Meinungen und sind in jede Richtung manipulierbar, Park- und Waldbäume hingegen scheinen allein den Fakten verpflichtet. Sie sind nüchterne Charaktere. Nüchterner noch als jene Ingenieure, die traumwandelnd zwischen Risiken und Restrisiken und entstressten Machbarkeiten balancieren und manchmal nicht mehr wissen, wo oben und unten ist und ob der Geist in der Maschine ein göttliches Geschenk darstellt oder eher einen Dämon.
Und genau diese baumhafte Nüchternheit könnte uns als Vorbild dienen (so barock wir sind, wäre es auch mal spannend, unser Ohr dem vernünftigen Klang dieser „im Wind sich biegenden Gewächse“ zu leihen). Anstatt von einer Zukunft zu träumen, die sich so wenig wird umsetzen lassen wie funktionierende Rettungsschirme ohne Reißleine oder gigantische Kolonien auf einem baumlosen Mond.
Sicher, es gibt auf der Welt viel zu viele Bäume. Sie sind arrogant, perfekt, elitär und – in der Mehrheit. Teufel auch!
Im Grunde ist es ein Spiel. Die Welt ist immer ein Spiel, selbst in ihren grausamsten Momenten. – Wir haben die Mächtigen, die Ohnmächtigen und die Gleichgültigen. Die Gleichgültigen spielen nicht mit. Die Ohnmächtigen versuchen es hin und wieder, was den Mächtigen durchaus auch Freude bereitet, weil sich das Spiel zwar alleine besser spielen lässt, dabei aber ein wenig langweilig wird. Das Aufbegehren der Ohnmächtigen zwingt die Mächtigen, nicht nur in die Trickkiste zu greifen, sondern vollkommen neue Tricks zu entwickeln. Das ist dann ihr Fortschritt, ihre politische Entwicklung.
Die Ohnmächtigen glauben an die Wahrheit. Das ist ihr romantischer Zug. Manche werden dabei verrückt. Manche religiös.

Nun, der Komet wird auf Stuttgart stürzen und ein gewaltiges Loch hinterlassen. Tausende Jahre später, wenn die Erinnerung längst verblasst ist, wird man sich fragen, warum der Krater die merkwürdige Form einer gestreckten Badewanne besitzt.

Wir bedanken uns bei Heinrich Steinfest für diesen Beitrag! Er ist übrigens Pate dieses Baumes im Schlossgarten

Der Text ist Teil eines Vortrages vom Abend des 9.1.2012, den Heinrich Steinfest vor dem Südflügel des Bonatz-Bahnhofes vorgetragen hat. Diesen Beitrag und weitere des Abends gibt es hier auch als Video.